Soni-me

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Digitales Therapieunterstützungssystem

Kurzfassung

Sonifikation, Musifizierung und Visualisierung eines Vigilanzportraits von Patienten mit Bewusstseinsstörungen auf Basis von EEG und weiteren Vitaldaten für Therapeuten, Patienten und Angehörige. Schwerpunkt: Wachkoma-Patienten der Facheinrichtung für Intensivpflege GmbH in Barßel. Durchführung: Dr. Markus Köhl, Michael Buschermöhle KIZMO, Prof. Dr. Becker Gesundheitstechnologie Apollon Hochschule

Projektlaufzeit: April 2022-April 2025

Medizintechnische Lösungen für eine digitale Gesundheitsversorgung      

Sonifikation, Musifizierung und Visualisierung eines Vigilanzportraits von Patienten mit Bewusstseinsstörungen auf Basis von EEG und weiteren Vitaldaten für Therapeuten, Patienten und Angehörige

Akute Hirnschädigungen können zu schweren Bewusstseinsstörungen bis zum Wachkoma, dem sogenannten Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW), führen. Die häufigsten Ursachen für diesen Zu- stand sind der ischämische Schlaganfall oder traumatische Ursachen gefolgt von Hirnblutungen. In Abgrenzung des SRW spricht man von einem Zustand mit einem erhaltenen Minimalbewusstsein (“minimally conscious state”, MCS), wenn reproduzierbar Verhaltensweisen nachvollziehbar sind, die auf eine bewusste Wahrnehmung der Umwelt hindeuten. Das größte Problem in der Rehabilitation dieser Patienten ist es, die geeigneten Therapiefenster zu treffen, da die Fluktuationen der Aufmerk- samkeit nicht vorhersehbar und klinisch schwer erkennbar sind. Ziel des Projekts ist es, ein System zu entwickeln, um Sonifikation, Musifizierung und Visualisierung vegetativer Körperfunktionen zum Zweck der Darstellung der Vigilanz bzw. Wachsamkeit bei neurologischen Patienten zu erforschen, untersuchen und beispielhaft als Demonstrator zu implementieren. Als Eingabegrößen werden EEG (Elektro-Enzephalografie) und EMG (Elektro-Myografie) adressiert. Auch zusätzliche Körperdaten wie z.B. Herzschlag, Atmung, Blutdruck oder Pulswelle sollen für das System genutzt werden. Diese nicht- invasiv erhobenen Bioinformationen werden artefaktbereinigt, in ein individuelles Vigilanzspektrum überführt und dann visualisiert bzw. sonifiziert und musifiziert. Das vorgesehene System soll zunächst exemplarisch für Patienten mit Bewusstseinsstörungen nach Trauma oder Ischämie erarbeitet wer- den, kann im Erfolgsfall später aber auch auf weitere Patientengruppen (z.B. Schlaganfallpatienten mit milderer Klinik) ausgedehnt werden. Im Projektanschluss ist bei positiven Projektergebnissen die Weiterentwicklung des Systems zu einem Gerät zur Verwendung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen vorgesehen.

Thema und Zielsetzung des Vorhabens

Gemäß DRG-Statistik (Diagnosis Related Groups) werden ca. 1 Mio. Patienten pro Jahr von Neurologen in deutschen Kliniken behandelt. Schlaganfälle zählen zu den häufigsten neurolo- gischen Erkrankungen in Deutschland; dabei sind vor allem ältere Patienten betroffen. Auf- grund des demographischen Wandels werden in Zukunft immer mehr Schlaganfälle behandelt werden. Auch das idiopathische Parkinson-Syndrom ist mit einer Prävalenz von 100-200 pro 100.000 Einwohner in Deutschland eine sehr häufige neurologische Erkrankung. Viele dieser Patienten weisen Bewusstseins- oder Vigilanzstörungen auf. Weitere Ursachen für Vigilanz- störungen können Traumata (Unfälle) oder Substanzmissbrauch sein. Dabei bewegen sich Bewusstseinsstörungen auf einem Spektrum von leichten Bewusstseinseintrübungen bis hin zum Wachkoma, wobei auch beim selben Patienten starke Schwankungen der Vigilanz auftre- ten können. Ein wichtiger Aspekt für Therapie und Rehabilitation in der Neurologie ist es, ge- eignete Therapiefenster zu treffen, in denen die Patienten vigilant bzw. wachsam sind. Fluktu- ationen der Aufmerksamkeit sind jedoch nicht vorhersehbar und es ist klinisch nicht immer erkennbar, wann ein Patient sich z.B. für eine Therapie in einem guten Zeitkorridor innerhalb seines Vigilanzspektrums bewegt. Aus den genannten Gründen besteht Bedarf an einer Mög- lichkeit, Biosignale über einen längeren Zeitraum zu erfassen und ein Vigilanzportrait patien- tenindividuell zu erstellen und die Informationen darüber Behandelnden und Therapeuten zur Verfügung zu stellen. Auch Angehörige oder sogar die Patienten selbst könnten von einer entsprechenden Information profitieren.

Die Antragsteller sehen ein großes Potential in einer über herkömmliche visuelle Displays hinausgehenden Vermittlung der Informationen. Daher ist die Verklanglichung der Vigilanzin- formationen ein zentrales Thema des Vorhabens. Für Therapeuten und Behandelnde hat dies den Vorteil, dass sie potentiell komplexe Informationen über den Bewusstseinszustand des Patienten in einer akustischen Modalität präsentiert bekommen, um somit parallel zu anderen Tätigkeiten die Vigilanzinformation akustisch erfassen zu können. Für diesen Zweck ist eine technische Sonifikation der Daten vorgesehen. Für Patienten und Angehörige kann ein eher intuitiver oder gar emotionaler Zugang zur Vigilanzinformation sinnvoll sein. Hierfür ist eine Musifizierung der Daten eingeplant. Als Eingangsgrößen dienen neben Vitalparametern wie Herzschlag, Atmung oder Blutdruck Daten aus der Elektro-Enzephalografie (EEG) und Elekt- ro-Myografie (EMG). Herausforderung hierbei ist es, insbesondere die EEG-Signale von Arte- fakten durch Muskelbewegung oder technisch/mechanischen Störungen zu befreien und nachfolgend hinsichtlich der Vigilanz zu interpretieren und zu klassifizieren. Das System soll zunächst exemplarisch für Patienten mit Bewusstseinsstörungen nach Trauma oder Ischämie erarbeitet und in einer frühen klinischen Machbarkeitsstudie getestet werden. Neben der technischen Machbarkeit sollen dabei auch medizinische Abläufe und eine sinnvolle Interpre- tation der Daten berücksichtigt werden, um für die genannte Patientengruppe ein geeignetes Gesamtkonzept zu erarbeiten und zu testen.

Zweck des Systems ist die Erfassung von Vigilanzzustand und Responsivität des Gehirns. Dabei soll eine möglichst optimale Informationsweitergabe für die behandelnden Personen erreicht werden. Perspektivisch lässt die Identifikation geeigneter Parameter für die Vigilanz ein breites Feld an Anwendungen neben den hier skizzierten zu, beispielsweise zur Erken- nung von Ermüdungserscheinungen von Personen in sicherheitskritischen Anwendungen (z.B. Zugfahrer, Fluglotse). Dies soll aber im vorliegenden Projekt nicht adressiert werden.

Im Projektanschluss ist bei positiven Projektergebnissen die Weiterentwicklung des Systems zu einem Gerät zur Verwendung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen vorgesehen. Hierfür werden die drei Firmen ErgoSoni, Sonovum und BeSB eng zusammenarbeiten. Bestehende Kontakte und Expertisen in Bezug auf das deutsche Erstattungssystem seitens ErgoSoni sind für eine anschließende Weiterentwicklung zum Medizinprodukt ebenso nützlich, wie die Tat- sache, dass Sonovum bereits Hersteller von Medizinprodukten zur Zustandsüberwachung

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Projektskizze Vigilanzportrait DigiMed III

neurologischer Erkrankungen ist. Bei erfolgreicher Weiterentwicklung und Inverkehrbringung in Deutschland kann anschließend auch eine Markteinführung in Europa und ggf. weltweit erfolgen.

  1. Stand der Wissenschaft und Technik, eigene Vorarbeiten, Patentlage

Akute Hirnschädigungen können zu schweren Bewusstseinsstörungen bis hin zum Wachko- ma, dem sogenannten Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW, synonym mit chronisch vege- tativem Status) führen. Diese Patienten befinden sich in einem Zustand, bei dem es trotz Wachphasen mit geöffneten Augen keine klinischen Hinweise auf eine Kontaktfähigkeit gibt. Die Betreuung dieser Menschen stellt für Mediziner und Therapeuten, wie auch Angehörige eine besondere Herausforderung dar. Die häufigsten Ursachen für diesen Zustand sind der ischämische Schlaganfall oder traumatische Ursachen gefolgt von Hirnblutungen. In Abgren- zung des SRW spricht man von einem Zustand mit einem erhaltenen Minimalbewusstsein (“minimally conscious state”, MCS), wenn reproduzierbar Verhaltensweisen nachvollziehbar sind, welche auf eine bewusste Wahrnehmung der Umwelt hindeuten (z.B. zeitweise Fixation oder kurze Augenfolgebewegungen). Die Abgrenzung zwischen dem SRW und dem MCS ist schwierig und die Rate der Fehldiagnosen mit 37-43% hoch, dieses sicherlich auch, weil die Symptomatik unvorhersehbar fluktuiert. Das größte Problem in der Rehabilitation dieser Pati- enten ist es, die geeigneten Therapiefenster zu treffen, da die Fluktuationen der Aufmerksam- keit nicht vorhersehbar und klinisch schwer erkennbar sind. Unter dem Einsatz von sehr kost- spieliger Diagnostik wurden leider nur mit mäßigem Erfolg Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und auch die Positron-Emissions-Tomographie (PET) eingesetzt. Die Sensitivität und die Spezifität dieser Verfahren, um zwischen einem SRW und einem MCS zu unterscheiden, liegt jedoch jeweils unter 50%. Diese Techniken sind zudem nicht für eine Verlaufseinschätzung oder gar für ein kontinuierliches Screening des Wach- heitszustandes geeignet. Die beste Aussagekraft zur Einschätzung der Wachheit hat das quantitative EEG, welches mittels einer Ableitung aber nur temporär zur Verfügung steht (in der Regel bis zu 30 Minuten). EEG Dauerableitungen sind auf neurologischen Intensivstatio- nen etabliert, können aber aufgrund der limitierten Datenaufnahme und auch der Datenkom- plexität nicht als geeignete Informationsquelle für eine Graduierung des Wachheitszustandes genutzt werden, und sie spiegeln keineswegs das individuelle Spektrum der EEG Graphoele- mente des einzelnen Patienten wider, welches für eine Erkennung von Aufmerksamkeitspha- sen dienen kann. Der in diesem Antrag zu entwickelnde Demonstrator soll genau diese Nach- teile überwinden und eine Langzeitmessung von EEG, aber auch weiteren vegetativen Para- metern ermöglichen und in einer Analyse das Spektrum von individuellen Schwankungen er- fassen und die Indikatoren der aktuellen Vigilanz darstellen. 31-37% aller Patienten zeigen nach einem Schlaganfall Störungen der Vigilanz im Sinne einer Störung der Daueraufmerk- samkeit (Hydmann et al. 2003, Hydmann et al. 2008), deren Ausmaß auch mit der späteren Alltagsfunktionalität korreliert (Robertson et al. 1997). Diese Häufigkeiten zeigen, dass das Potential eines individualisierten Vigilanzprotraits zur online Detektion eine große Patienten- zahl erreichen könnte. Zwar sind EEG-Ableitungen zu Prognoseeinschätzungen nach schwe- rer Hirnschädigung bei Patienten mit einer Wachheitsstörung routinemäßig etabliert, und auch Langezeitmessungen von Biosignalen sind z.B. auf der Intensivstation etabliert. Keines der Systeme bietet jedoch die Möglichkeit, das aus Biosignalen abgeleitete Vigilanzspektrum und damit ein Vigilanzportrait zu erstellen, dieses zu verklanglichen, und diese Informationen in einem leicht zu interpretierenden Format auch Therapeuten, Angehörigen und dem Patienten zur Verfügung zu stellen. Das EEG-Signal ist komplex und lässt sich in verschiedene Fre- quenzbänder aufteilen. Ansteigende Aktivität im Theta und Alpha Band bei gleichzeitiger Ver- ringerung der Aktivität im Gamma-Frequenzbereich werden mit schläfrigen Zuständen in Ver- bindung gebracht im Gegensatz zu wacheren Zuständen (Akin et al., 2008; Zheng & Lu, 2017). Der vorliegende Vorschlag zur Langzeitmessung von EEG setzt auf ein mobil einsetz- bares System, bestehend aus einem kabellosen EEG-Verstärker und Festgelelektroden oder Folienklebelektroden. Letztere basieren auf einer aktuellen Entwicklung beim Projektpartner IDMT als Fortentwicklung der sogenannten cEEGrids als folienbasiertem Klebeelektroden- streifen zur Befestigung rund um das Ohr (Debener et al., 2015; Bleichner & Debener, 2017).

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Zwischen Elektrodenfläche und Haut wird ein Gel eingesetzt, um den elektrischen Kontakt zur Haut zu verbessern. Trockenelektroden müssen gegenüber diesen sogenannten Nasselekt- roden mit etwas Druck gegen die Haut angesetzt werden, was den Tragekomfort insbesonde- re über längere Zeit mindert. Auch zeigen sie eine höhere Artefaktanfälligkeit. Für eine Lang- zeitbeobachtung, insbes. bei Patienten mit Bewusstseinseinschränkungen, ist der Anspruch an den Tragekomfort besonders hoch anzusetzen und mit gesunden Probanden zu validieren. Die cEEGrids wurden bereits in einer Schlafstudie eingesetzt, und charakteristische Elemente des Schlafs werden erfasst (Da Silva Souto et al., 2020). Prototypen dieser Art als sehr ein- fach zu applizierende Elektroden sollen im vorliegenden Projekt eine EEG- und EMG- Beobachtung über mehrere Tage ermöglichen. Die grundsätzliche Machbarkeit auch in die- sem Anwendungskontext wurde im BMBF-Projekt NeuroCommTrainer aufgezeigt; abgren- zend dazu erfolgt hier die Kombination mit dem Ansatz der Sonifikation und Musifizierung, um die teils sehr komplexen Biodaten für die Anwendergruppen zugänglicher zu machen. Erste Versuche zur Verklanglichung von EEG-Daten gehen bis in die 1960er Jahre zurück (z.B. Rosemboom, 1972). Seit den 1990er Jahren ist es möglich, Biosignale wie EEG, EMG etc. direkt in MIDI-Daten umzuwandeln (BioMuse-Kit von B. Knapp und H. Lusted). Mittlerweile sind Brain Computer-Interfaces (BCI) ein Forschungsthema, das bereits teilweise Einzug in kommerzielle Anwendungen gefunden hat. Die Firma NeuraLink von Elon Musk ist hier ein besonders bekanntes von vielen Beispielen. Auch im spezielleren Bereich des Brain- Computer Music Interfacing (BCMI, siehe z.B. Miranda, 2010) ist viel Aktivität zu verzeichnen. In einem Projekt der Universitäten Plymouth und Reading wurden bis 2017 Technologien un- tersucht, um den affektiven Zustand zu überwachen und bestimmte affektive Zustände durch Musik automatisch und adaptiv zu induzieren (Williams & Miranda, 2018).

Die Sonifikation in der Biomedizin ist ein rasch wachsender Bereich mit vielen verschiedenen Ansätzen für EEG-Abbildungen (Väljamäe et al. 2013). Insgesamt wurde die enge Wechsel- wirkung zwischen auditiven und motorischen Bereichen des Gehirns und die Bedeutung audi- tiver Informationen für Bewegungsausführung, Kontrolle und Lernen in zahlreichen neurobio- logischen und verhaltenswissenschaftlichen Studien untersucht und aufgezeigt (Schaffert et al. 2019). Hierbei kommt v.a. im Sportbereich die Sonifikation von Bewegungsabläufen als direktes Audiofeedback zum Einsatz, um die motorische Leistung von Sportlern zu verbessern bzw. Bewegungen zu optimieren. Im medizinischen Bereich wird Sonifikation z.B. als Rhyth- mische Hörstimulation (Rhythmic Auditory Stimulation RAS) (Thaut et al. 2014) eingesetzt, um die Motorik bei Parkinson oder nach einem Schlaganfall zu verbessern.

Unterscheiden muss man zwischen Sonifikation und Musifikation: Sie sind beide Formen der auditiven Darstellung, aber bei der Musifikation werden die Daten nicht einfach linear aurali- siert – es wird eine zusätzliche Abstraktionsebene hinzugefügt, um sie dem künstlerischen Ausdruck näher zu bringen (Williams 2018). Komponisten wie Eduardo Miranda, Johannes Kretz, Grace Leslie, Goran Lazarevic und andere suchen nach Möglichkeiten, die Verwen- dung von EEG-Geräten in ihre Musik zu integrieren. Trotz der hier aufgeführten Beispiele gibt es nach Kenntnis der Antragsteller noch kein Gerät oder System auf dem Markt, das den me- dizinischen Anforderungen von Wachkomapatienten gerecht wird. Der hier verfolgte Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass das gesamte Vegetativporträt (Köhl 2009) eines Patienten genutzt werden soll, um den Prozess des Musifizierens voranzutreiben, um so den intuitiven Zugang zu komplexen Vigillanz-Informationen zu vereinfachen.

Der Antragsteller ErgoSoni hat bereits 2018 ein Patent für die Sonifikation von Körpersignalen angemeldet. Der Antragsteller BeSB hat ein Gebrauchsmuster für ein System für therapeuti- sches Bewegungstraining mit auditivem Feedback angemeldet. Natürlich gibt es auch andere Patente und Schutzrechte im Bereich der therapeutischen Nutzung von Biosignalen und Soni- fikation bzw. Musifizierung, aber bei genauer Betrachtung sind die Patentansprüche sehr spe- ziell, so dass die generelle Projektidee an sich nicht geschützt ist und somit eine Freedom to Operate vorliegt.

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